Chronische Schmerzen sind mehr als nur lang anhaltende körperliche Beschwerden – sie stellen eine eigenständige Erkrankung dar, die das Leben der Betroffenen tiefgreifend verändern kann. Im Gegensatz zu akuten Schmerzen, die als Warnsignal des Körpers fungieren und nach Heilung der Ursache abklingen, persistieren chronische Schmerzen über mindestens drei bis sechs Monate oder treten immer wieder auf. Sie haben ihre ursprüngliche Warnfunktion verloren und sich zu einem eigenständigen Krankheitsbild entwickelt. Etwa 20 Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden unter chronischen Schmerzen, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Besonders verbreitet sind Rücken- und Nackenschmerzen, Kopfschmerzen sowie Schmerzen des Bewegungsapparates. Chronische Schmerzen beeinträchtigen nicht nur die körperliche Funktionsfähigkeit, sondern wirken sich auch auf die psychische Gesundheit, soziale Beziehungen und die Arbeitsfähigkeit aus.
Entstehung und Mechanismen chronischer Schmerzen
Chronische Schmerzen entstehen durch Veränderungen im Nervensystem, die zu einer Verselbstständigung des Schmerzgeschehens führen. Ein zentraler Mechanismus ist die sogenannte Schmerzgedächtnisbildung oder Sensibilisierung. Dabei kommt es zu einer erhöhten Empfindlichkeit der Nervenzellen, die an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind. Diese reagieren bereits auf schwache Reize mit verstärkten Signalen.
Nervenzellen, die normalerweise nicht an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind, können in diesen Prozess einbezogen werden, wodurch auch ursprünglich nicht schmerzhafte Reize als schmerzhaft empfunden werden (Allodynie). Gleichzeitig werden körpereigene Schmerzhemmsysteme geschwächt, die normalerweise Schmerzsignale modulieren und kontrollieren. Durch diese neuroplastischen Veränderungen verselbstständigt sich der Schmerz und besteht unabhängig von der ursprünglichen Ursache fort.
Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen
Nicht jeder akute Schmerz wird chronisch. Bestimmte Faktoren können jedoch das Risiko einer Chronifizierung erhöhen:
- Biologische Faktoren wie genetische Veranlagung, Alter, Geschlecht und bestimmte Grunderkrankungen
- Psychologische Faktoren wie Depressionen, Angststörungen und passive Bewältigungsstrategien
- Soziale Faktoren wie belastende Lebensereignisse und mangelnde soziale Unterstützung
- Behandlungsbezogene Faktoren wie unzureichende Akutschmerzbehandlung
Je früher Risikofaktoren erkannt und adressiert werden, desto besser kann einer Chronifizierung entgegengewirkt werden.
Häufige Formen chronischer Schmerzen
Chronische Schmerzen können in verschiedenen Körperregionen und in unterschiedlichen Formen auftreten:
- Chronische Rückenschmerzen sind die häufigste Form und betreffen etwa 20–30 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens. Oft sind sie unspezifisch, das heißt, es lässt sich keine eindeutige körperliche Ursache feststellen.
- Kopfschmerzen wie die Migräne oder der Spannungskopfschmerz zählen ebenfalls zu den häufigen chronischen Schmerzerkrankungen. Migräne ist durch wiederkehrende, meist einseitige pulsierende Kopfschmerzen gekennzeichnet, oft begleitet von Übelkeit und Lichtempfindlichkeit.
- Fibromyalgie ist ein komplexes Schmerzsyndrom, das durch weit verbreitete Schmerzen im gesamten Körper, erhöhte Schmerzempfindlichkeit, Erschöpfung und Schlafstörungen gekennzeichnet ist.
- Neuropathische Schmerzen entstehen durch Schädigungen oder Erkrankungen des Nervensystems selbst. Sie werden oft als brennend, elektrisierend oder stechend beschrieben und können von Empfindungsstörungen begleitet sein.
Multimodale Therapie chronischer Schmerzen
Da chronische Schmerzen durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren entstehen und aufrechterhalten werden, ist ein multidisziplinärer Behandlungsansatz notwendig. Die multimodale Schmerztherapie kombiniert verschiedene Behandlungsverfahren und bezieht mehrere Fachdisziplinen ein.
Medikamentöse Therapie
Medikamente sind ein wichtiger Baustein in der Behandlung chronischer Schmerzen, müssen aber immer in ein Gesamtkonzept eingebettet sein. Je nach Schmerzform kommen verschiedene Wirkstoffgruppen zum Einsatz:
Bei nozizeptiven Schmerzen werden nichtsteroidale Antirheumatika wie Ibuprofen oder bei stärkeren Schmerzen auch Opioide eingesetzt. Bei neuropathischen Schmerzen zeigen hingegen bestimmte Antiepileptika oder Antidepressiva bessere Wirksamkeit.
Die medikamentöse Therapie erfolgt nach dem WHO-Stufenschema, das eine schrittweise Eskalation der Schmerzmedikation vorsieht.
Nicht-medikamentöse Verfahren
Ergänzend zur medikamentösen Therapie spielen nicht-medikamentöse Verfahren eine zentrale Rolle:
- Physiotherapie und Bewegungstherapie helfen, Beweglichkeit zu erhalten, Muskeln zu stärken und Schonhaltungen entgegenzuwirken. Regelmäßige körperliche Aktivität fördert zudem die Ausschüttung körpereigener Schmerzhemmstoffe.
- Psychologische Verfahren wie kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstechniken und Biofeedback unterstützen den Umgang mit dem Schmerz und die Entwicklung aktiver Bewältigungsstrategien.
- Physikalische Maßnahmen wie Wärme- oder Kälteanwendungen, Elektrotherapie und Massage können symptomatische Linderung verschaffen.
Selbstmanagement und Edukation
Ein wesentlicher Bestandteil der chronischen Schmerztherapie ist die Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit der Betroffenen:
- Patientenschulungen vermitteln Wissen über die Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen und helfen, ein biopsychosoziales Krankheitsverständnis zu entwickeln.
- Selbstmanagementstrategien wie Aktivitätenplanung, Pacing (ausgewogene Verteilung von Aktivität und Ruhe) und der Einsatz von Entspannungstechniken ermöglichen es den Betroffenen, selbst Einfluss auf ihr Schmerzerleben zu nehmen.
Leben mit chronischen Schmerzen
Chronische Schmerzen bedeuten für viele Betroffene eine tiefgreifende Veränderung ihres Lebens. Realistische Therapieziele sind wichtig, da eine vollständige Schmerzfreiheit oft nicht erreicht werden kann. Vielmehr geht es um eine Verbesserung der Lebensqualität, die Wiedererlangung von Funktionsfähigkeit im Alltag und die Entwicklung eines konstruktiven Umgangs mit dem Schmerz.
Chronische Schmerzen erfordern häufig eine Anpassung der Lebensführung, ohne dass der Schmerz das Leben vollständig dominiert. Mit professioneller Unterstützung, einem multimodalen Therapieansatz und aktiven Selbstmanagementstrategien können viele Betroffene trotz chronischer Schmerzen ein erfülltes Leben führen und ihre Lebensqualität deutlich verbessern.